In der Pflege sind freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) oft von Pflegekräften und Angehörigen „gut gemeint“ um die Klienten vor Gesundheitsgefahren zu schützen. Jedoch können auch durchführte Maßnahmen der Freiheitsentziehung erheblich negative Gesundheitsfolgen für den Betroffenen haben. Darüber hinaus kann eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit auch rechtliche Konsequenzen haben. Jeder Mensch hat nach Artikel 2 Abs. 2 GG das Recht seinen Aufenthaltsort frei zu ändern, daher dürfen Maßnahmen, die dieses Recht beeinträchtigen, nur sehr eingeschränkt vorgenommen werden. Es bedarf daher einer genauen Abwägung und einer Sensibilisierung, was alles eine freiheitsentziehende Maßnahme sein kann und was es für Alternativen hierzu geben kann.
Defintion
Freiheitsentziehende Maßnahmen sind jegliche Handlungen oder Maßnahmen, durch welche ein Mensch gegen seinen Willen daran gehindert wird, seinen Aufenthaltsort zu ändern.
Freiheitsberaubung im Strafrecht
Auf strafrechtlicher Ebene ist vor allen der §239 StGB relevant.
§ 239 StGB Freiheitsberaubung
(1) Wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter 1. das Opfer länger als eine Woche der Freiheit beraubt oder 2. durch die Tat oder eine während der Tat begangene Handlung eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht. (4) Verursacht der Täter durch die Tat oder eine während der Tat begangene Handlung den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. (5) In minder schweren Fällen des Absatzes 3 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 4 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen. |
Damit eine Handlung oder ein Unterlassen nach § 239 Abs. 1 StGB strafbar ist, muss sowohl der objektive und subjektive Tatbestand der Norm erfüllt sein, zudem darf es keine Rechtfertigungsgründe geben und der Täter muss schuldhaft gehandelt haben.
1. Tatbestand der Freiheitsberaubung
FEM können durch Einsperren oder durch Berauben der Freiheit auf andere Weise geschehen.
Einsperren
Einsperren liegt dann vor, wenn der Täter durch äußere Vorrichtungen das Opfer daran hindert, den Raum zu verlassen. Es reicht dabei aus, wenn die Benutzung der Fluchtwege ungewöhnlich, anstößig, gefährlich oder beschwerlich ist.
Das Berauben der Freiheit
Das Berauben der Freiheit auf andere Weise kann durch jedes Tun oder Unterlassen bewirkt werden, durch welches die Fortbewegungsfreiheit des Opfers vollständig aufgehoben wird. Im Gegensatz zum Einsperren reicht hier die bloße Erschwerung nicht, es sei denn, das Überwinden der Hemmnisse ist im Einzelfall unzumutbar gefährlich.
Die Freiheitsberaubung muss sich auf einen gewissen Zeitraum erstrecken, nur ganz kurze Handlungen reichen hierfür nicht aus. Als erheblich wird hierbei in der Rechtsprechung ein Zeitraum vom mindestens ca. 45 Sekunden angesehen.
Geschütztes Rechtsgut ist die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung in Bezug auf die Freiheit der Person zur Veränderung des Aufenthaltsortes. Nicht geschützt ist hingegen die Freiheit, einen bestimmten Ort aufzusuchen.
Möglichkeit der willentlichen Fortbewegung
Der Freiheit beraubt werden kann nur derjenige, der überhaupt in der Lage ist, willentlich den Aufenthaltsort zu ändern.
- Keine Freiheitsberaubung also bei Kleinstkindern unter einem Jahr, Wachkomapatienten, bewegungsunfähigen Personen oder Personen, bei denen keine willentlichen Bewegungen möglich sind (z. B. Anfallsleiden), da sie ihre Ortsveränderung nicht selbstständig herbeiführen können.
Der potentielle Wille einer Person zur Aufenthaltsänderung reicht. Es genügt daher, wenn der Betroffene sagen könnte „Ich will mich gar nicht fortbewegen. Sollte ich es aber wollen, könnte ich es nicht“.
- Daher können auch Schlafende und Bewusstlose an Ihrer Freiheit beraubt werden.
Beispiele für freiheitsentziehende Maßnahmen
- Einsperren, Versperren von Türen, Einschließen, auch durch komplizierte Schließmechanismen und Trickschlösser
- mechanisches Fixieren mittels Bettgittern, Bauchgurten, Hand- und Fußfesseln oder Feststellen der Bremsen eines Rollstuhles
- Wegnahme von Hilfsmitteln wie Brille, Rollstuhl, Gehilfen Schuhen oder sonstiger Kleidung ohne die der Betroffene seinen Standort nicht wechseln kann
- Medikamente, sofern diese zum Zweck der Sedierung verabreicht werden. Dies unterfällt dann der Freiheitsberaubung, wenn die Medikamente gerade zum Zweck der beruhigenden, bewegungsreduzierenden Wirkung verabreicht werden um eine Person an der Fortbewegung zu hindern oder um durch die Sedierung die Pflege zu erleichtern.
(+) Etwa durch die Gabe von Neuroleptika, Antidepressiva und anderen Psychopharmaka, wenn hierdurch der Bewegungsdrang (Weglauftendenz) verhindert werden soll.
(-) Nicht bei sedierenden Medikamenten, wenn es sich um Psychopharmaka handelt, welche es aus therapeutischen Zwecken verabreicht werde und nur als Nebenwirkung der Bewegungsdrang eingeschränkt wird.
Freiheitsberaubung durch Unterlassen
Es ist auch möglich, die Freiheitsberaubung durch ein Unterlassen einer Handlung zu begehen (gemäß § 13 StGB). Dies beispielsweise dann, wenn eine Pflegekraft einen Klienten versehentlich einsperrt (nicht strafbar, wenn nachweislich kein Vorsatz), ihr danach der Fehler auffällt, sie es dann aber unterlässt die Freiheitsberaubung zu beseitigen. Der Vorwurf, welcher der Pflegekraft hier gemacht wird ist, dass sie es unterlassen hat, ihren Fehler zu beheben.
Tatbestandsausschließendes Einverständnis
Ein Berauben der Freiheit kann nur dann vorliegen, wenn dies gegen den Willen des Betroffenen geschieht. Ist die betroffene Person daher einwilligungsfähig und erteilt ihre Einwilligung (dies immer schriftlich geben lassen!), dann kann keine Freiheitsberaubung vorliegen. Geklärt werden muss daher, ob der Betroffene einwilligungsfähig ist, nur dann kann er seine Einwilligung erteilen.
Einwilligungsfähigkeit ist dann gegeben, wenn der Betroffene den Sinn und Zweck der Maßnahme verstehen und seinen Willen hiernach ausrichten kann. Dazu gehört die Fähigkeit, einen bestimmten Sachverhalt zu verstehen (Verständnis), die Fähigkeit, bestimmte Informationen, auch bezüglich der Folgen und Risiken, in angemessener Weise zu verarbeiten (Verarbeitung) und die Fähigkeit, die Informationen, auch im Hinblick auf Behandlungsalternativen, angemessen zu bewerten (Bewertung).
Auf Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung der Situation muss sodann die Fähigkeit gegeben sein, den eigenen Willen zu bestimmen (Bestimmbarkeit des Willens). Die gegebene Einwilligung bezieht sich dabei immer auf die konkrete Situation und kann jederzeit widerrufen werden. Verliert der Klient z.B. infolge einer dementiellen Veränderung die natürliche Einsichtsfähigkeit, ist auch seine vorher gegebene Einwilligung nicht mehr wirksam. Verweigert der einwilligungsfähige Patient seine Einwilligung, darf die FEM nicht durchgeführt werden.
Auch bei erteilter Einwilligung sollte mit FEM restriktiv umgegangen werden. Nur weil eine Handlung erlaubt ist bedeutet dies nicht, dass diese auch sinnvoll ist. Häufig sind sich diejenigen, die der FEM zustimmen der Gefahren nicht bewusst, die von der angedachten Maßnahme ausgehen.
Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes nach § 1831 BGB bei Einwilligungsunfähigkeit
Ist der Betroffene nicht einwilligungsfähig, so bedarf es gegebenenfalls der Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahme durch das Betreuungsgericht gemäß § 1831 BGB (bis 31.12.2022 wurde dies in § 1906 BGB geregelt, seit 01.01.2023 finden sich die entsprechenden Regelungen in § 1831 BGB). Eine Genehmigung des Betreuungsgerichts ist nach § 1831 BGB notwendig, sofern sich der Betreute in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält. Die Häuslichkeit des Betroffenen fällt „eigentlich“ nicht unter die aufgezählten Örtlichkeiten. Daher ist nach dem Gesetzeswortlaut in der ambulanten Pflege keine ausdrückliche Genehmigung des Betreuungsgerichtes nötig. Aber leider ist die Rechtsprechung hier uneinheitlich, manche Gerichte sehen freiheitsentziehende Maßnahmen in der eigenen Wohnung dennoch als genehmigungspflichtig an, wenn die Pflege in der Häuslichkeit durch einen ambulanten Pflegedienst durchgeführt wird. Daher sollte im Zweifelsfall sicherheitshalber auch in der ambulanten Pflege ein Beschluss des Gerichts eingeholt werden.
Freiheitsentziehende Maßnahmen zu Hause durch Angehörige unterliegen hingegen keiner gerichtlichen Genehmigung. Auch hier müssen die Maßnahmen aber immer zum Schutz des Betroffenen notwendig und verhältnismäßig sein, da sonst eine Strafbarkeit nach § 239 StGB vorliegen kann.
Subjektiver Tatbestand-Vorsatz
Um den Tatbestand der Freiheitsberaubung zu erfüllen, muss auf der subjektiven Seite vorsätzlich gehandelt worden sein. Dies ist dann der Fall, wenn der Täter mit Wissen und Wollen der Tatbe- standsverwirklichung gehandelt hat. Es ist dabei ausreichend, wenn bedingter Vorsatz (dolus eventualis) vorliegt, der Täter den Eintritt der Freiheitsentziehung für möglich hält und diese billigend in Kauf nimmt, auch wenn er sie nicht unbedingt herbeiführen will.
2. Rechtswidrigkeit und Schuld
Als Rechtfertigungsgrund kommt insbesondere der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB in Betracht. Hiernach gilt:
„Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“
Betrachtet werden müssen also immer die Umstände des Einzelfalls, danach ob
- die Gefahr nicht anders abgewendet werden kann,
- dass zu schützende Rechtsgut höher zu bewerten ist als da zu verletzende und
- die Tat angemessen ist um die Gefahr für das zu schützende Rechtsgut abzuwenden.
Eine Freiheitsentziehung kann demnach insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn diese nur einmalig und vorübergehend in einer Notsituation erfolgt, z. B. bei einem akuten Fieberanfall oder zur Abwendung eines Suizides.
Prüfung von möglichen Alternativen
Neben den ggf. rechtlichen Konsequenzen einer FEM hat diese oft auch negative tatsächliche Folgen für den Betroffenen. Die FEM kann physischen Stress verursachen, zur Abnahme der Mobilität und zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes an sich führen. Daher sollten stets mögliche Alternativen zu FEM geprüft werden.
Beispiel: Sturzvermeidung
Oft werden FEM mit der Verhinderung von Stürzen begründet. Leider führen oft aber gerade die FEM zu neuen Stürzen. Sucht sich der Betroffene andere Ausgänge, weil die Türen versperrt sind, kann es zu Stürzen aus den ungeeigneten Ausgängen kommen. Auch im Nachgang zu der FEM kann das Sturzrisiko erhöht sein. Bewegt sich der Klient weniger, so nehmen seine motorischen Fähigkeiten ab, zudem kann ihm mit der Freiheitsentziehung suggeriert werden, dass es gefährlich ist sich zu bewegen. Dadurch wird der Gang noch unsicherer und das Sturzrisiko nimmt zu. Der Expertenstandard Sturz stellt auch ausdrücklich fest, dass FEM keinesfalls zur Sturzprophylaxe geeignet sind.
- Hochziehens des Bettgitters nur auf einer Seite, Erhöhung auf der anderen Bettseite durch „Poolnudel“
- Legen einer Sportmatte vor dem Bett oder Anschaffung eines Niederflurbettes
- Beseitigung von Stolperfallen in der Wohnung
- Festes Schuhwerk und angemessene, gutsitzende Kleidung
- Durchführung von Kraft- und Balancetraining zur Stärkung des Gangbildes
- Vorhandensein von genügend Sitz- und Haltemöglichkeiten und nötiger Hilfsmittel (Rollator, Rollstuhl usw.)
- Überprüfung der Medikamente und ggf. Anpassung in Absprache mit dem verordnenden Arzt
- Anpassung des Inkontinenzmaterials
- Durchführung von basaler Stimulation
- Anbringen von Lampen mit Bewegungsmeldern und Nachtlichtern